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Kriterien für die Aufsicht im Rundfunk und in den Telemedien /

Menschenwürde – Verletzung der Menschenwürde

Menschenwürde

Verletzung der Menschenwürde

Die Menschenwürde ist nach dem am weitesten verbreiteten Definitionsansatz verletzt, wenn eine konkrete Person oder eine Personengruppe zum Objekt degradiert oder als Objekt instrumentalisiert wird. Die Menschenwürde ist nicht schon dann verletzt, wenn ein Angebot Geschmacklosigkeiten, polemische Ausfälle und sprachliche Entgleisungen aufweist, bei denen es der handelnden Person nicht nur oder in erster Linie um die Kränkung der angegriffenen Person geht. Vielmehr muss bei der Bewertung eines möglichen Verstoßes gegen die Menschenwürde eine gewisse Intensität festgestellt werden. Sie ist dann erreicht, wenn die Subjektqualität des Menschen grundlegend und prinzipiell missachtet und der Mensch somit zum Objekt herabgewürdigt wird. 

Eine Verletzung der Menschenwürde ist demnach bei einem Angebot gegeben, wenn es den Geltungsanspruch eines Menschen leugnet und ihn systematisch und zielgerichtet herabwürdigt. Sie liegt dann vor, wenn Menschen nicht mehr als eigenständige und willensbestimmte Wesen wahrgenommen werden.

Hierbei ist auch zu prüfen, inwieweit Menschen durch den Anbieter aus bestimmten Gründen in unzulässiger Weise kommerzialisiert, dadurch erniedrigt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden, z. B. durch das Erreichen einer hohen Zuschauerquote aufgrund der voyeuristischen Befriedigung der Rezipient:innen. Eine unzulässige Kommerzialisierung liegt insbesondere dann vor,

  • wenn Menschen von einem überlegenen Akteur aus Gründen wirtschaftlichen Erwerbsstrebens in eine für sie unentrinnbare Situation gebracht werden, die sie weder vollständig durchschauen noch  beherrschen können, der sie also ausgeliefert sind,
  • und wenn die Gesamtumstände den oder die ausgelieferten Menschen in ihrem sozialen Achtungsanspruch verletzen, weil sie zum Gegenstand der Anprangerung, der Schaustellung oder der Verächtlichmachung herabgewürdigt werden. 

Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen die Menschenwürde ist darauf zu achten, wer der/die jeweilige Schutzadressat:in oder das Schutzobjekt ist. Die Menschenwürde kann unter drei Aspekten verletzt werden:

  • Schutz des/der Teilnehmer:in an einem Angebot oder des/der Dargestellten in einem Angebot (Teilnehmer:innenschutz),
  • Schutz des/der Zuhörer:in oder Zuschauer:in bzw. Nutzer:in oder Anwender:in (Rezipient:innenschutz) und
  • Schutz der Menschenwürde als Teil der jeweiligen Wertordnung, wie sie maßgeblich durch die Grundrechte geprägt ist (Menschenwürde als Teil der verfassungsrechtlichen Wertordnung).


Beim Teilnehmer:innenschutz, z. B. bei einem/einer Teilnehmer:in einer Talk- oder sog. „Extrem“-Show, ist der Aspekt einer Einwilligung zu berücksichtigen. Die Einwilligung kann als Ausdruck der eigenen Individualität und damit der eigenen Menschenwürde gewertet werden. Hierbei ist im Einzelfall insbesondere zu prüfen, ob sich der/die Einwilligende der Möglichkeit der Gefährdung seiner/ihrer Menschenwürde bewusst war und ob sein/ihr Ausharren in derartigen Situationen durch äußere Umstände hervorgerufen wird, die eine die freie Willensbildung ausschließende Wirkung haben können.

Beim Rezipient:innenschutz und beim Schutz der Menschenwürde als Teil der verfassungsrechtlichen Wertordnung ist eine Einwilligung dagegen unerheblich. Die Menschenwürde als Teil der verfassungsrechtlichen Wertordnung ist verletzt, wenn durch ein Angebot Verhaltensweisen geprägt werden und ein Menschenbild vermittelt wird, das Art. 1 Abs. 1 GG widerspricht.

Als Konsequenzen für die Rechtsanwendung von Art. 1 Abs. 1 GG ergeben sich folgende Punkte:

  • Der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie als einer eigenständigen Verbürgung neben den übrigen Grundrechten ist schon wegen seiner besonderen Unbestimmtheit und der kräftigen außerrechtlichen Wurzeln des Art. 1 Abs. 1 GG schwer zu ermitteln.
  • Im Konflikt mit anderen Grundrechten besitzt die Menschenwürdegarantie ein besonderes Gewicht, weil sie Höchstwert und Fundament der Verfassung ist. Die Menschenwürde ist nicht abwägungsfähig mit anderen Grundrechten. Dies vergrößert allerdings auch die Probleme der Schutzbereichsbestimmung, weil bei seiner Ermittlung besondere Behutsamkeit notwendig ist, sollen nicht andere Freiheitsrechte in bedenklicher Weise verdrängt werden.
  • Die Menschenwürdegarantie erlangt wegen ihrer besonderen Qualität als Staatsfundamentalnorm eine objektive Dimension, die sie aus der alleinigen Verfügungsbefugnis des Grundrechtträgers herausnimmt.
  • Die objektive Dimension und der subjektive Verfügungsrahmen erweitern sich durch den ausdrücklich angeordneten Schutzauftrag an die öffentliche Gewalt, weil der Staat Gefährdungen und Verletzungen der Würde des Menschen in der freien Gesellschaft nicht tatenlos zusehen darf.

Diese Besonderheiten lassen die Rechtsanwendung des Art. 1 Abs. 1 GG außerordentlich schwierig werden und erklären teilweise die mitunter kritisierte Zurückhaltung der Rechtsprechung, Fälle allein am Maßstab der Menschenwürdegarantie zu entscheiden.

Durch die Verbindung der früheren Ziffern 4 und 5 des § 3 Abs. 1 RStV zu § 4 Abs. 1 Ziff. 8 JMStV könnte der Eindruck entstehen, dass die größte Gefährdung der Menschenwürde in den dort beschriebenen Darstellungen liegt (also der Darstellung von Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, wobei ein tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse gerade für diese Form der Darstellung oder Berichterstattung vorliegt; eine Einwilligung ist unbeachtlich). Diese vermeintliche Schwerpunktbildung hat jedoch rundfunkgeschichtliche Gründe. Die Programmentwicklung der letzten Jahre hat deutlich gemacht, dass der Gefährdungsschwerpunkt sich verlagert hat und heute auf der Zurschaustellung lebender Menschen, die sich freiwillig in ihre Menschenwürde gefährdende Situationen begeben, liegt.