Kunstvorbehalt
Wo liegen die Schranken der Kunstfreiheit?
Auch wenn im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – im Unterschied zum Jugendschutzgesetz – keine ausdrückliche jugendschutzrechtliche Antwort auf die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre enthalten ist, so bestimmen diese verfassungsrechtlichen Freiheiten dennoch auch die Auslegung des Staatsvertrages. Namentlich müssen Angebote im Rundfunk und in Telemedien, die Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind, nach Maßgabe der Verfassungsnorm gegen ein Verbot oder eine Beschränkung ihrer Rezeptionsmöglichkeiten geschützt sein. Die Verbote nach § 4 JMStV und die Beschränkungen nach § 5 JMStV greifen nämlich in den durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Wirkbereich der Kunst ein.
Bei der Frage, was Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist, bewegt sich die Rechtsprechung zunehmend auf einen offenen, bloß „formalen“ Kunstbegriff zu. Kunst ist danach ein Ergebnis freier schöpferischer Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des/der Künstler:in zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des/der Künstler:in. Die Kunstfreiheit erfasst auch audiovisuelles Schaffen. Sogar die realistische Darstellung von Dingen oder Vorgängen in Umsetzung der bloßen Sinneserfahrung ohne einen spezifisch geistigen oder seelischen Bezug kann ein Anliegen künstlerischer Betätigung sein, ebenso wie die Wahl eines jugendgefährdenden Inhalts und seiner Verarbeitung nach der von dem/der Künstler:in selbst gewählten Darstellungsart. Das heißt, dass beispielsweise sogar Aufforderungen zum Ausländerhass, sofern sie z. B. in lyrische oder musikalische Form gebracht sind, als eine „freie eigenschöpferische Gestaltung“ Kunst darstellen würden. Der Kunstvorbehalt darf – dem weiten Verständnis des Kunstbegriffs entsprechend – nicht im Sinne einer Niveaukontrolle von vornherein ausgeschlossen werden. Allerdings darf Kunst ihrerseits, selbst in satirischer Form, nicht alles.
Was die Schranken des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG betrifft, so ist die Kunstfreiheit zwar ohne ausdrücklichen Vorbehalt gewährleistet. Sie findet ihre Grenzen aber in anderen Normen des Grundgesetzes, die ein wesentliches Rechtsgut schützen (z. B. dem Kinder- und Jugendschutz), wobei allerdings die so genannte „Wechselwirkungslehre“ zu beachten ist.
Angebote im Rundfunk und in Telemedien sind von den Verboten und Beschränkungen in §§ 4 f. JMStV nicht (etwa im Sinne eines Grundsatzes „Kunstfreiheit gehe vor Jugendschutz“) schon deshalb ausgeschlossen, weil sie als Kunstwerk anzusehen sind. Umgekehrt kann auch nicht dem Kinder- und Jugendschutz von vornherein ein Vorrang vor der Kunstfreiheit zugedacht werden. Vielmehr muss eine Abwägung erfolgen, wobei beide Rechte – Kunstfreiheit und Jugendschutz – mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. Dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Dabei ist zu beachten, dass die Kunstfreiheit das Menschenbild des Grundgesetzes ebenso mitprägt, wie sie selbst von den Wertvorstellungen des Art. 1 Abs. 1 GG beeinflusst wird.
Bei der Kollision der Kunstfreiheit mit den Interessen des Jugendschutzes kann die danach von der Verfassung geforderte Konkordanz nicht allein auf der Basis vorheriger werkgerechter Interpretation, bei der der künstlerische Wille des/der Urheber:in, die Gesamtkonzeption des Werkes und seine Gestaltung im Einzelnen zu beachten sind, erreicht werden. Denn Kunstwerke können nicht nur auf der ästhetischen, sondern auch auf der realen Ebene Wirkungen entfalten. Gerade Kinder und Jugendliche werden häufig den vollen Gehalt eines Kunstwerks nicht ermessen können. Deshalb sind bei der Abwägung neben der werkgerechten Interpretation auch die realen Wirkungen eines Kunstwerkes – sowohl bei normal entwickelten als auch bei gefährdungsgeneigten Kindern und Jugendlichen – zu berücksichtigen. Ist bei der Abwägung der Kunst der Vorrang einzuräumen, so ist ein Angebot im Rundfunk oder in einem Telemedium trotz ggf. schwerer Jugendgefährdung ausnahmsweise abweichend von § 4 f JMStV nicht unzulässig. Überwiegt dagegen die Jugendgefährdung, so darf auch ein Kunstwerk nicht oder nur nach den Maßgaben des § 4 Abs. 2 und des § 5 JMStV im Rundfunk oder in einem Telemedium verbreitet oder zugänglich gemacht werden.
Als Maßstab der Abwägung sind die in der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur entwickelten Strukturmerkmale anzulegen. Diese hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ (BVerfGE 67, 213) in Form dreier tragfähiger Ansätze zur Kunstdefinition benannt:
- Der in der Mephisto-Entscheidung (BVerfGE 30, 173) entwickelte materiale, wertbezogene Lösungsweg wird von der Erwägung getragen, dass wesentlich für die künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung sei, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des/der Künstler:in durch das Medium in einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden.
- Die formale, typologische Betrachtung, als (ideologie-)kritische Gegenposition, fragt einzig danach, ob die Gattungsanforderungen eines Werktyps erfüllt sind, in dessen Formen sich herkömmlicher Weise und anerkannter Maßen künstlerische Äußerungen vollzogen haben und vollziehen.
- Der kunst- bzw. zeichentheoretische Ansatz bemisst die Qualität einer künstlerischen Äußerung an der Mannigfaltigkeit ihrer Aussage d. h. daran, ob die künstlerische Darstellung komponierter Zeichen eine über ihre alltägliche Aussageform hinausreichende vielstufige und weitreichende Interpretation zulässt.
Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfasst auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der von dem/der Künstler:in selbst gewählten Darstellungsart. In einer solchen Situation wird die Kunstfreiheit umso eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die die minderjährigen Personen gefährdenden Darstellungen selbständig künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind.
Ist ein Angebot, das verboten oder den Beschränkungen des § 5 JMStV unterworfen ist, dem Bereich der Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zuzuordnen, hat eine unzureichende Ermittlung der widerstreitenden Belange zwangsläufig ein Abwägungsdefizit und damit die Rechtswidrigkeit der Entscheidung zur Folge. Aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG folgt, dass die Prüfeinrichtungen der KJM eine umfassende Ermittlung der für den Jugendschutz und der für die Kunstfreiheit sprechenden Belange durchzuführen haben. Diese Ermittlungspflichten der Prüfeinrichtungen werden unter anderem durch den Zweck der Abwägung in der Weise eingegrenzt, dass z. B. dann, wenn im Einzelfall allenfalls geringfügigen Belangen der Kunstfreiheit schwerwiegende Belange des Jugendschutzes gegenüberstehen und letztere offenkundig überwiegen, es nicht geboten ist und unverhältnismäßig wäre, die Ermittlungen weiter zu betreiben, als es zur Feststellung eines eindeutigen Übergewichts der Belange des Jugendschutzes erforderlich ist (BVerwG, Urt. v. 18.02.1998, NJW 1998, 75 ff.).